In meinem Bücherregal steht genau ein Buch in Frakturschrift. Wie genau es dort hingekommen ist, weiß ich nicht mehr. Es handelt sich um “Abenteuer in Doktor Kleinermachers Garten” von Herbert Paatz.
– Einschub –
Herbert Paatz hieß eigentlich Herbert Fiebrandt. Im Wikipedia-Artikel steht, dass der Künstlername gewählt wurde, um “der Zensur der Naziherrschaft zu entgehen”. Auf einer Gedenkseite zu Albert Sixtus hingegen drängt sich der Verdacht auf, dass die Namensänderung einfach nur ein dreistes Plagiat verschleiern sollte. Aber in dieses Internet, da darf ja jeder anonym reinschreiben. Zum Beispiel auch ein Enkel von Herrn Fiebrandt.
– Einschub Ende –
Doktor Kleinermacher macht seinem Namen alle Ehre, denn er hat eine “Wunderflasche”, deren Inhalt getrunken dazu führt, dass man ganz klein wird. Mit Hilfe dieses Effekts wird ein Garten erkundet: Hummel- und Wespennest, Pflanzen und allerlei Getier werden aus der Ameisenperspektive (im wahrsten Wortsinne) betrachtet. Bei der Lektüre lernt man allerhand über Tiere, Pflanzen, und woher der Wind weht1:
Wieder hatten die drei Abenteurer ihre Fahrräder mit und strampelten mühselig gegen den Wind dem Garten Doktor Kleinermachers zu. Dieter war über den Bauchwind sehr böse.
“Doktor, ist das nicht ein Jammer? Man kann fahren, wohin man will, immer hat man Bauchwind. Der schöne Schiebewind ist so selten. Und freut man sich über die Rückfahrt mit dem Schiebewind, dann hat sich der Wind gedreht, und man hat auf der Rückfahrt wieder Bauchwind. Es ist ein Jammer mit dem Wind. Warum hat man eigentlich so selten Glück und so oft Pech?”
“Das kann ich dir sagen, Dieter. Man hat nämlich ungefähr ebenso oft Glück wie Pech. Auch ich glaubte früher, daß der Schiebewind selten sei. Nun bin ich ein Gelehrter, und die Gelehrten sind sehr gründlich. Also legte ich mir ein Buch an, und dahinein schrieb ich alle Fahrten. Und hinter jeder Notiz vermerkte ich, ob ich Rücken- oder Bauchwind hatte. Als ich hundert Fahrten zusammen hatte, was soll ich euch sagen – da stand auf zwölf Fahrten Windstille, auf sechsundvierzig Fahrten Rückenwind und auf zweiundvierzig Fahrten Bauchwind.
Aber wie kommt es, daß wir annehmen, der Rückenwind sei so selten? Erstens empfinden wir die Windstille auch als Bauchwind, weil unser Rad sich gegen die Luft in Bewegung setzt. Zweitens wird ein schwacher Rückenwind von uns überholt, dann empfinden wir den Rückenwind auch als Bauchwind. Und drittens sind wir sehr undankbar. Oftmals notieren wir den Schiebewind gar nicht in unserem Gedächtnis. Er ist schön, der herrliche Schiebewind, aber nach der Fahrt haben wir die Erleichterung schon vergessen. Über den Bauchwind aber können wir stundenlang schimpfen.”
“Doktor, in deiner Gegenwart wage ich gar nichts mehr zu sagen. Du kannst uns alle Denkfehler ausreden. Woher hast du denn bloß deine Klugheit?”
“Das ist ein Geburtsfehler, lieber Dieter.”
“Solchen Geburtsfehler möchte ich auch mal haben. Aber mir fällt dabei etwas ein. Hoffentlich ist es nicht wieder verkehrt. Es gibt zwei Sorten von Menschen, die sich nach dem Wetter und nach dem Winde richten. Das sind die Seeleute und die Radfahrer. Ein Fußgänger wird nie fragen, aus welcher Ecke bläst der Wind, wenn er einen Ausflug machen will.”
An das Lefen von Frakturfchrift gewöhnt man fich recht fchnell. Ungünftig ift die Frakturfchrift nur, wenn man ein ganzes Kapitel lang denkt, der Doktor fei nicht mit Kindern, fondern mit Rindern auf dem Maulwurfshügel unterwegs2.
Im Umschlag meines Exemplars steht, dass ein Peter Deissmann das Buch im August ’41 für die Sommerreise nach Tirol geschenkt bekam (“Meinem lieben Petri”) . Dass dieses während der Zeit des Nationalsozialismus “Im Deutschen Verlag” erschienene Buch den englischen Vermerk “Printed in Germany” trägt, sei hier als amüsante Randnotiz abschließend erwähnt.